Wie eine Maltherapie dem spastisch gelähmten Michael Illig geholfen hat
Nach einem schweren Verkehrsunfall kam über Michael Illigs Lippen kein Wort mehr. Wegen eines Luftröhrenschnitts konnte er sich lange nur in Bildern ausdrücken, heute redet er wieder – auch darüber, dass ihm diese Bilder geholfen haben. Die Sulzerin Heidrun Kläger-Haug betreut Michael Illig bei der Kunsttherapie.
Unterjesingen/Sulz. Scheinbar mühelos malt Michael Illig einen blauen Himmel auf das Aquarell-Papier. Mit einem großen Pinsel streicht er über das Blatt. Sein Lieblingsblau ist das, sagt er. Der Pinsel ist umwickelt, damit er dicker ist und besser zwischen den Zehen liegt – Michael Illig malt mit dem linken Fuß. Der spastisch gelähmte 30-Jährige lebt auf Schloss Roseck. Er ist der jüngste Patient im Pflegeheim.
[Blockierte Grafik: http://tagblatt.de/tagblatt/archi…04_b1413698.jpg]
Ein Unfall, der ein Leben verändert hat. Das klingt fast zu banal, wenn man das Schicksal von Michael Illig kennt. Als 22-Jähriger prallte er beim Autobahnzubringer nahe Seebronn frontal in einen Lastwagen. Er erstickte fast, rang mit dem Tod. Danach lag er im Wachkoma. Als er wieder zu sich kam, konnte er nicht mehr sprechen. Aus einem Heim am Bodensee wurde er nach Unterjesingen verlegt, damit er näher bei seiner Familie ist. Dort hatte er einen schönen Ausblick auf das Ammertal, sah den Hohenzollern – konnte aber mit niemandem reden. Dann kam Heidrun Kläger-Haug. Die Chefin des Pflegeheims, Susanne Eggenweiler, hatte sie gebeten, mit Illig eine Kunsttherapie zu machen. Kläger-Haug zögerte erst – hatte sie doch sonst mit Kindern zu tun – und sagte schließlich ein halbes Jahr später zu. Seither kommt sie jede Woche.
„Farbe“, sagt Michael Illig. Kläger-Haug hält ihm ein Stück Pappkarton mit 24 Farbfeldern nahe an den Körper. Mühevoll deutet Illig mit seinen verkrampften Fingern auf Rot. „Das“, er zeigt auf das lila Feld, „mit dem mischen“. Die zwei sind ein eingespieltes Team. Er malt, bis der Pinsel keine Farbe mehr hergibt. Das hat sich wohl aus der Zeit gehalten, als er noch als Maler arbeitete. Auch übermalen will er nicht. Wo eine Figur später eine Badehose bekommt, spart er den Hautton aus. Ist das auch noch aus der Berufspraxis? Michael Illig lacht: „Wahrscheinlich.“
Im Wrack des Lieferwagens bekam Illig nach dem Unfall keine Luft mehr. Er hatte Angst zu ersticken, wurde dann bewusstlos. Erst mit seinen Bildern begann Illig, den Unfall zu verarbeiten, damit umzugehen, dass er fast gestorben ist. Manches aus der Vergangenheit kam so ans Licht seines neuen Lebens. Rückblickend ist es auch für Heidrun Kläger-Haug überraschend, wie sehr sich ihr Patient in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Kürzlich hat er sein erstes Bild mit Perspektive gezeichnet, berichtet sie stolz. Die Therapie „bringt Lebensfreude und Energie“, sagt Kläger-Haug.
An der Decke des Zimmers im Pflegeheim hängt eine Ferrari-Flagge, am Kopfende des Bettes ein großes Poster von FC Bayern-Mittelfeldspieler Franck Ribéry. Im Hintergrund läuft leise eine Metall-CD der Gruppe „[BLINK]Frei.Wild[/BLINK]".
In seinem ersten Zimmer auf Schloss Roseck hatte Michael Illig einen traumhaften Blick auf das Ammertal. In seinen neuen Räumlichkeiten hört er dafür die Vögel zwitschern und hat mehr Platz. Etwa für einen Computer, den er über ein kleines Touchpad, wie man es an Notebooks findet, bedienen kann. Am liebsten spielt er Monopoly auf dem Computer. Wenn die Bundesliga wieder los geht, freut er sich, die Spiele im Fernsehen zu sehen.
Erst seit zwei Jahren kann Illig wieder sprechen. Vorher teilte er sich nur durch Schnalzen mit der Zunge mit – und durch seine Bilder. Neben der Kunsttherapie bekommt Michael Illig Sprach-, Ergo- und Physiotherapie. Die Kunsttherapie soll ihm heute vor allem Abwechslung bringen. „Er gilt als austherapiert“, sagt Kläger-Haug. Die Maltherapie hat Michael Illig geholfen, den Unfall zu verarbeiten. „Ich bin zu schnell gefahren, der Lastwagenfahrer auch – da trifft keinen eine Schuld“, sagt Michael Illig heute.
Die Liebe zu schnellen Autos ist allerdings geblieben. Motorengeheul auf der CD reißt ihn aus seiner Konzentration, fesselt ihn für Sekunden. Auch das Auto seiner früheren Freundin geht ihm nicht aus dem Kopf, er hat es neben seinem Bett aufgehängt. Sechs Zylinder, 192 PS hatte es, erzählt Michael Illig. „Aber auf die Autobahn sind wir damit nie, da war der Sprit zu teuer“, sagt er.
Michael Illig verschenkt seine Bilder gerne. Im Flur des Heimes hängen zahlreiche seiner Werke. Er will Mitglied in der „Vereinigung der mund- und fußmalenden Künstler in aller Welt“ werden – drei anerkannte Mitglieder gibt es in Baden-Württemberg. Der Aufnahmeantrag läuft derzeit. Illig hofft, als Stipendiat aufgenommen zu werden. „Er hat einen starken Willen“, sagt Kläger-Haug. Illigs Bilder sind heute nicht mehr formlos, sondern erzählen Geschichten.
Mit seinen klaren Augen blickt Illig konzentriert auf das nächste Blatt, es ist noch leer. Doch er weiß schon, was er malen will: „Ich und meine Freundin gehen schwimmen“, soll das Bild heißen. Bei feinen Details in den Bildern wird es für Michael Illig schwierig. Sein Gesicht sieht angespannt aus, er konzentriert sich voll. Durch die spastische Lähmung kann Illig den Fuß nicht einfach wieder vom Blatt nehmen. Er fährt die gezeichnete Linie zurück und hebt erst dann mühsam den Fuß.
„Dass ich mit dem Fuß malen kann, wundert mich – aber es geht“, sagt er. Anstrengend sei es aber nicht, den Fuß so lange Zeit in der Luft zu halten. Während er malt, erzählt Illig gerne von früher. Von einem verbotenen Tauchgang im Bodensee, der den jungen Mann 750 Mark Strafe gekostet hat und von seiner Zeit, als er Judoka war. In seinen Bildern spiegeln sich Träume und Wünsche wider. Erzählen die Bilder vom mallorquinischen Strand aus der Vergangenheit, zeigt die Hochzeit mit Rollstuhl, was Michael Illig sich wünscht. Und das kann er in Bildern besser und freier ausdrücken, als er es in der zurückgekehrten Sprache kann.
Quelle:https://www.freiwild-supporters-club.de/www.tagblatt.de
Text: Benjamin Hechler